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Nicht vergessen

Simon Rageth

Die Lektüre des Buches “Der Schwarm” von Frank Schätzing vor rund 20 Jahren war für mich persönlich ein erhellender Moment. Ein schwarmintelligentes Wesen ist dort der Menschheit aufgrund seiner Schwarmintelligenz überlegen. Heisst, was ein kleines Wesen im Schwarm weiss, weiss der ganze Schwarm. Dies macht dieses Wesen der Menschheit überlegen, denn die Menschheit hat diese Schwarmintelligenz eben nicht.

Und wir kennen es von uns selbst: Der Mensch muss lernen und kann logischerweise nicht alles lernen. Und viel schlimmer noch: Der Mensch und mit ihm die Menschheit vergisst auch wieder, was die Entwicklung unserer Spezies langfristig eindämmen kann oder zumindest verlangsamt. Ich möchte hier aber nicht schwarzmalen, denn es ist beeindruckend, wie stark und weit sich die Menschheit in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt hat. Trotzdem müssen wir uns immer wieder bewusst machen, dass wir eben auch vergessen – bewusst und unbewusst. Dabei gibt es Ereignisse, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen, deren Bedeutung für das kollektive Gedächtnis der Menschheit sehr wichtig wären, um gleiche Fehler nicht noch einmal zu begehen. Und es gibt Ereignisse, die man nicht ignorieren darf.


Kürzlich jährte sich die Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz zum 80. Mal. Dieses Datum markierte nicht nur das Ende eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte, sondern soll uns auch als Mahnung dienen, dass solch unfassbares Leid und solch Grausamkeit nie wieder geschehen dürfen. Doch in der SRF Tagesschau vom 27. Januar 2025 war zu sehen, wie junge Menschen den Holocaust nicht kannten. Dies mag vielleicht keine repräsentative Umfrage gewesen sein und diese jungen Menschen sollen dadurch nicht verurteilt werden, doch zeigt es eben, dass wir keine Schwarmintelligenz haben. Wir laufen ständig in Gefahr, dass wir es versäumen aus der Vergangenheit zu lernen und damit dieselben Fehler wieder begehen, da wir vergessen haben.


Ein zeitlich näheres Beispiel ist der Ukrainekrieg: Ein europäisches Land wurde im Februar vor nun drei Jahren angegriffen. Während zu Beginn die Ukrainerinnen und Ukrainer in so manchem Schweizer Haushalt Zuflucht fanden, diskutieren wir heute darüber, ob und welche dieser Menschen wir wieder zurückschicken wollen in ein Land, das sich nach wie vor und unverändert in einem hässlichen Angriffskrieg befindet. Immer mehr Regierungen oder in die Regierung strebende Kräfte akzeptieren oder verharmlosen das Vorgehen des Aggressors. Auch hier dürfen wir nicht vergessen, was geschehen ist, auch wenn wir des Themas müde geworden sind oder zur Reduktion von Komplexität bewusst die aktuellen Vorgänge in der Ukraine ignorieren, verdrängen oder eben vergessen.


Vergessen liegt in der Biologie des Menschen. Und in einer Zeit, in welcher wir uns einer Reizüberflutung kaum verwehren können, wird dieses Vergessen vielleicht sogar noch akzentuiert. Dies vermeiden können wir nicht. Was wir aber können, ist uns bewusst sein, dass wir eben vergessen. Und damit müssen wir bewusst auch zurückschauen, wir müssen verstehen was war, wir müssen analysieren, ob es auch besser gegangen wäre und wir müssen entscheiden, welche Schlüsse wir daraus ziehen. Was wir nicht dürfen, ist die Vergangenheit auszublenden und aktuelles Geschehen zu verdrängen oder zu ignorieren. Denn nur wenn wir aus der Vergangenheit lernen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen, dem aktuellen Geschehen in die Augen blicken und dieses nicht ignorieren, nur dann können wir es in der Zukunft besser machen und ermöglichen damit Fortschritt, Entwicklung und Wohlstand. Dies gilt für den Holocaust oder die Ukraine, für den Staat und die Wirtschaft, für dich und mich.


Die Spezies Mensch ist zwar nicht scharmintelligent, doch ich hoffe sie ist intelligent genug, nicht zu vergessen.


(Dieser Beitrag ist am 11. Februar 2025 als Gastkommentar im Bündner Tagblatt erschienen)

 
 

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